Dokument: Gewißheit versus Hypothese. Postmetaphysische Untersuchungen zur Philosophieauffassung bei Kant, Newton und Schopenhauer

Titel:Gewißheit versus Hypothese. Postmetaphysische Untersuchungen zur Philosophieauffassung bei Kant, Newton und Schopenhauer
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URN (NBN):urn:nbn:de:hbz:061-20030728-000591-3
Kollektion:Dissertationen
Sprache:Deutsch
Dokumententyp:Wissenschaftliche Abschlussarbeiten » Dissertation
Medientyp:Text
Autor: Lorenz, Andreas [Autor]
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Dateien vom 09.02.2007 / geändert 09.02.2007
Beitragende:Prof. Dr. Dr. h.c. Birnbacher, Dieter [Gutachter]
Prof. Dr. Dr. May, Reinhard [Gutachter]
Stichwörter:Kant, Newton, Schopenhauer, Transzendetalphilosophie, Experimentalphilosophie, Vernunftmetaphysik, Willensmetaphysik, Apodiktizität, Hypothetizität, postmetaphysisch
Dewey Dezimal-Klassifikation:100 Philosophie und Psychologie
Beschreibung:Die vorliegende Arbeit versteht sich nicht aus reinem Widerspruchsgeist, sie sucht auch nicht, Widersprüche oder Probleme da zu entdecken, wo es keine gibt, sondern will in die Pflicht genommen werden, nach Problemlösungen zu suchen, um diejenigen Gedankenansätze freizulegen, die es wert sind, auch heute noch diskutiert zu werden. Dabei werden die hochstilisierten Mythen der Philosophiegeschichte weder nacherzählt noch Systemdenkmäler restauriert, sondern bestimmte Denk- und Erkenntnismuster kritisch hinterfragt, um den Bestand tradierter Begriffsbildungen samt ihren Geltungsansprüchen mit neuesten Lösungsansätzen in ihrem Wirkungszusammenhang auf den Prüfstein rationaler Kritik zu stellen.
Gewißheit versus Hypothese soll heißen, den in mancherlei Hinsicht überzogenen Theoriestatus der Philosophieauffassung Kants, Newtons und Schopenhauers in ihren Geltungsansprüchen unter postmetaphysischen Aspekten zu betrachten und unter Zugrundelegung bestimmter erkenntniskritischer Interpretationskriterien in Richtung auf ein hypothetisches Metaphysik- und Wissenschaftsverständnis hin zu analysieren. Daß postmetaphysisch nicht mit postmodern zu verwechseln ist, und hier immer noch auf dem einst so hoffnungsvoll angebrochenen Boden der Moderne philosophiert wird, versteht sich von selbst. Postmetaphysisch heißt, den klassischen Kritizismus als Philosophieoption zu problematisieren, um einen zeitkritischen Abstand zur Metaphysik insgesamt zu wahren und das Metaphysikproblem bei Kant und Schopenhauer von heute aus zu betrachten. Ihre existentielle sowie epistemische Relevanz soll weder in Frage gestellt noch in integrum restituiert werden. Als postmetaphysische Konsequenz des Kritizismus gilt die Preisgabe des klassischen Begründungsdenkens im wissenschaftstheoretischen Rückgriff auf die Idee eines hypothetischen Wissens. Konsequenter Kritizismus heißt, das Irrlicht der Apodiktizität in die Mythengalerie der Philosophiegeschichte zu delegieren und Logik nicht mehr als welterschließendes Begründungsinstrument, sondern als Hilfsmittel der Kritik zu gebrauchen.
Im folgenden wird unter Verzicht auf einen analytischen Vollständigkeitsanspruch eine rationale Rekonstruktion der Metaphysikansätze Kants und Schopenhauers versucht, um ihren Gehalt einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei werden wir uns von einem philosophiehistorischen Rekonstruktionsminimum leiten lassen. Dieser Ansatz bedeutet, daß durchweg zwei Bedingungen beachtet werden: Erstens bleibt der Deutungsversuch in verhältnismäßiger Übereinstimmung mit den Grundideen der zu rekonstruierenden Philosophien. Zweitens zwingt er uns dazu, unsere Analyse mit historischer Methode zu verbinden. Im allgemeinen gehen wir heute von anderen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Einsichten als Kant oder Schopenhauer aus. Insofern kann es nicht mehr um eine historisch adäquate und detailgetreue Deutung ihrer Philosophie gehen, sondern um eine unter gegenwärtigen Voraussetzungen vertretbare Interpretation, ohne den Anspruch zu erheben, ihrer Konzeption in allen Details gerecht werden zu wollen. Entsprechend frei wird die eigene Theoriebedingtheit als historische Momentaufnahme im offenen Deutungsprozeß der Gedankengänge Kants und Schopenhauers eingestanden.
Warum gerade Kant, Newton und Schopenhauer? Diese Konstellation gründet einerseits in einem philosophiehistorischen Wirkungszusammenhang, andererseits in einem bestimmten metatheoretischen Interesse. Einerseits stehen die drei Denker in einem unübersehbaren Wirkungszusammenhang. Die methodischen Grundlagen der Philosophie Kants (Kritik der reinen Vernunft) wurzeln in Newtons Himmelsmechanik aus den Philosophiae Naturalis Principia Ma-thematica, diese hat ihrerseits entscheidend auf die Grundlagen der Philosophie Schopenhauers (Die Welt als Wille und Vorstellung) eingewirkt. Andererseits können die Philosophien Kants und Schopenhauers als Musterbeispiele zweier grundlegend verschiedener Metaphysikauffassungen gelten. Von einem metatheoretischen Standpunkt aus stellen sich diese Philosophien zwei grundlegend unterschiedliche Optionen für die Metaphysik dar.
Die Arbeit ist so aufgebaut, daß zunächst der Begriff der Metaphysik einer Klärung unterzogen wird und dann am Beispiel Kants und Schopenhauers beide grundlegende metaphysische Optionen entwickelt werden. Zunächst wird im ersten Kapitel Das Problem der Metaphysik dem antiken Ursprung der klassischen Grundfrage der Metaphysik nachgegangen und ihre überlieferten Sinn- und Problemgehalte mit den Mitteln der modernen Sprachkritik hinterfragt. Metaphysik wird dabei weder für "begriffsdichtenden Unsinn" erklärt noch als "strenge Wissenschaft" hingenommen. Vielmehr geht es um ein bestimmtes Metaphysikverständnis, das den Kontinuitätskontext philosophischer Denktradition wahrt und ihre Kompatibilität mit der Moderne prüft. Mit dieser Problemstellung wird ein Bekenntnis zu einer induktiven Metaphysik als Ausdruck grundlegender intellektueller sowie existentieller Reflexionsfähigkeit des Menschen im Rahmen eines möglichst umfassenden Welt- und Selbstverständnisses abgelegt. Eine induktive Metaphysik, die sich methodisch auf explizite Hypothesenbildungen stützt, begründet keine evidenten Erstprinzipien, um aus ih-nen "streng beweisend" unrevidierbares Wissen deduzieren zu können. Sie setzt beim aktual fundierten Wissensstand einzelner Erfahrungswissenschaften an und hinterfragt in methodischer oder systematischer Hinsicht ihre Erklärungs- und Geltungsbedingungen. Aufgrund ihrer expliziten Konjekturalität bleibt sie revidierbar.
Wenn "der kritische Weg allein" noch offen ist, Kant seinem Interpreten "sapere aude!" zuruft und ihn damit in die Mündigkeit entläßt, so bedeutet die Verpflichtung auf Kants Philosophie auch, kritisch gegen ihn selbst zu verfahren. Jede Kant-Orthodoxie trifft ins Leere. Es gilt heute nicht mehr, ?mit Kant zu denken?, sondern "weiter als Kant" zu denken. Es käme einem Pflichtversäumnis gleich, philosophie- und wissenschaftshistorisches Wissen als sakrosankte Grundwahrheiten auf dem Olymp reiner Vernunfteinsichten zu feiern und sie als letztgültig zu immunisieren. Es gilt vielmehr, die Geltungsansprüche jeder Philosophie immer wieder kritisch zu hinterfragen.
Eine solche kritische Hinterfragung wird im zweiten Kapitel Kants apriorische Vernunftmetaphysik vorgenommen. Um Kants transzendentalphilosophische Wissenschaftsmetaphysik angemessen verstehen und auch heute noch würdigen zu können, ist es unerläßlich, seine werkgeschichtlichen Rezeptionsspuren zu Newton freizulegen. Kant philosophiert im methodischen Denkstrom der mathematischen Naturphilosophie Newtons. Doch die epochale Sonnenseite der Principia mathematica hat auch eine Schattenseite, und dieser Schatten fällt auch auf Kants Philosophie: Es ist Newtons Hypothesophobie, sein hypothesenfeindliches Wissenschaftsverständnis, zu dem sich auch Kant bekennt.
Diese Hypothesenfeindlichkeit steht in einem eigentümlichen Gegensatz zu dem transzendental-hypothetischen Charakter von Kants Theorie der Erfahrung. Dieser hypothetische Programmcharakter der Transzendentalphilosophie wird von Kant in seiner Vernunftkritik zunächst auch offen eingestanden. Kant stellt seine streng wissenschaftliche Metaphysikgrundlegung zunächst als Hypothese dar, indem er sich an der analytischen Verfahrensweise der neuzeitlichen Naturwissenschaften orientiert. Das transzendentalphilosophische Hypothesenzugeständnis bleibt aber nicht die letztgültige Programmerklärung der Metaphysik. Vor dem Gerichtshof der reinen Vernunft hat Kant in puncto Gewißheit oder Hypothese sich selbst das Urteil gesprochen: Der hypothetische Anfangscharakter der Transzendentalphilosophie wird suspendiert, da alles, was bei der Grundlegung der Metaphysik als strenge Wissenschaft einer Hypothese nur ähnlich sieht, "verbotene Ware sei", die um jeden Preis zu beschlagnahmen sei.
Woher diese Radikalität? Die Antwort lautet: weil im wissenschaftstheoretischen Hintergrund der Kantschen Metaphysikgrundlegung die verkappte Programmerklärung "hypotheses non fingo" Newtons wirkt und Kant mit seiner Transzendentalphilosophie im Einklang mit Newtons Naturphilosophie stehen wollte. Grundsatzerklärungen von der Art "Newton abstrahierte mit Recht von allen Hypothesen", "in der Metaphysik gibt's keine Hypothesen" oder "Hypothesen bleiben immer Hypothesen", und zwar als "Voraussetzungen, zu deren völliger Gewißheit wir nie gelangen können", bezeugen die Hypothesophobie, die er von seinem Vorbild Newton übernommen hat.
Die Wurzeln dieser Abneigung gegen alles Hypothetische, die im dritten Kapitel Newtons Hypothesophobie und Kant abgehandelt werden, liegen in Kants vorkritischer Phase. Als Naturphilosoph glaubte Kant fest an eine "von aller Hypothese befreite mechanische Erklärungsart der Erscheinungen" im Rahmen der Newtonschen Himmelsmechanik, und diese apodiktische Erkenntnismöglichkeit liegt auch noch seiner Transzendentalphilosophie stillschweigend zugrunde. Wie Newton glaubte Kant (irrtümlicherweise) an eine endgültige Verifizierung wissenschaftlicher Theorien. Zwar sollte Kants Erfahrungstheorie nicht allein als "Theorie der Physik" verstanden werden. Sie tritt vielmehr als von der Newtonschen Physik unabhängig auf. Aber sie ist nicht nur geeignet, diese Theorie nachträglich zu legitimieren, sie greift zu ihrer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung auch explizit auf deren Begriffs- und Methodenvorleistungen zurück.
Ein adäquates Verständnis der erfahrungs- und wissenschaftstheoretischen Zielsetzung der kritischen Transzendentalphilosophie Kants ist ohne Einsicht in Newtons mathematische Experimentalphilosophie kaum erreichbar. Kants erkenntnismetaphysischer salto transcendentale in die Erfahrungswelt war nur auf dem Hintergrund seiner Absicherung durch das axiomatische Wissenschaftsnetz der Newtonschen Experimentalphysik möglich. Die von Kant so eindringlich beschworene Denkrevolution der Kopernikanischen Drehwende ruht auf den Grundfesten der epochalen Wissenschaftsrevolution Newtons. Mit dieser Auffassung hat Kant über das philosophiehistorische Begründungsparadigma des klassischen Rationalismus sowie den mathematischen Geltungsanspruch der Newtonschen Himmelsmechanik den Ausbau der Philosophie als Metaphysik zu einer apodiktischen Vernunftwissenschaft mit letztgültiger Langzeitwirkung unternommen. Die "Umänderung der Denkungsart" sollte nicht nur revolutionär, sie sollte auch endgültig sein. Gemäß seinem Aufklärungsideal erklärt Kant die reine Vernunft als allgemeine Menschenvernunft zum Ortungsinstrument metaphysischer Grundfragen.
Das vierte Kapitel Schopenhauers induktive Willensmetaphysik widmet sich der Philosophie Schopenhauers als Gegenmodell zu Kants Metaphysikauffassung. Was für Kant Newton war, das war für Schopenhauer Kant. Schopenhauer philosophiert zwar im transzendentalphilosophischen Denkhorizont Kants, entwickelt seine Metaphysik aber ausdrücklich in Opposition zu Kant. Während Kant eine apriorische Vernunftmetaphysik als Formalwissenschaft konzipiert, erklärt Schopenhauer seine Willensmetaphysik zu einer Erfahrungswissenschaft, die auf die Analyse der Erfahrung im ganzen angelegt wird. Damit erweist er sich als Vertreter einer erfahrungstheoretischen Grundlegung der Metaphysik innerhalb der neuzeitlichen Philosophietradition.
Bei der Grundlegung seiner Metaphysik auf empirischer Grundlage sieht sich Schopenhauer schicksalhaft mit der Vernunftkritik Kants konfrontiert. Als Nachkantianer will er Metaphysik grundlegend anders betreiben. Diese Ausgangslage zwingt ihn dazu, aus seinem subjektiven Weltverständnis heraus nach noch nicht erschlossenen Alternativzugängen zu suchen. Metaphysik weist unterschiedliche Erkenntnisquellen auf. Als Erfahrungswissenschaft schöpft sie nicht aus der Vernunft als ihrem apriori denknotwendigen Quellgrund, sondern aus empirischen Erkenntnisquellen. Sie nimmt den Status einer hypothetischen Welterklärung an und gibt damit ihren apodiktischen Begründungsstatus preis.
Schopenhauers Antwort auf Kants Vernunftmetaphysik ist die Formulierung einer hypothetischen Metaphysik auf empirischer Grundlage. Sie verzichtet auf Apriorität und Apodiktizität ihrer Kernaussagen, und die Quellen metaphysischer Erkenntnis werden nicht mehr in synthetisch-apriorischen Begriffsgrößen einer deduktiv verfahrenden Vernunft oder in einer rein transzendentalphilosophischen Reflexion gesehen, sondern vielmehr in empirischen Erkenntnisquellen. Metaphysik aus empirischen Erkenntnisquellen soll heißen, daß wenn das Problem der Metaphysik (der über die Leiberfahrung induzierte Wille) empirisch gegeben ist und sich dem auf Welt- und Selbsterkenntnis abzielenden Erfahrungssubjekt existentiell stellt, so muß auch sein Lösungsansatz in der Empirie gesucht werden. Die Erkenntnisgrundlage der Metaphysik muß notwendig empirischer Art sein, da die Ausgangsbasis ihrer Erklärungsansätze Naturdinge sind. Schopenhauer geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er eine radikale Physiologisierung der Metaphysik vornimmt und seine erfahrungsbezogene Willensmetaphysik eng an die Naturwissenschaften bindet.
Im Gegensatz zu Kant wird auf diese Weise bei Schopenhauer nicht Logik und Experimentalphysik, sondern Physiologie und Anthropologie zur Grundlage aller Erkenntnis- und Metaphysikkritik. Diese Art von Metaphysik bedeutet einen dezidierten Bruch mit der Tradition, der einer philosophischen Wende von säkularer Bedeutung gleichkommt. Als Begründer einer induktiven Metaphysik mit explizitem Hypothesencharakter wird Schopenhauer damit "im Anschluß an Kants Wechsel vom rationalistischen zum transzendentalphilo-sophischen Paradigma" zum Initiator eines erneuten Paradigmenwechsels in der Metaphysik.
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Dokument erstellt am:28.07.2003
Dateien geändert am:12.02.2007
Promotionsantrag am:25.06.2001
Datum der Promotion:25.06.2001
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